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Rascheln, Knistern, Flüstern, leises Klopfen, sanftes Streichen eines Pinsels über ein Mikrofon, ja sogar schmatzende Essgeräusche oder das Beobachten von Personen beim Lackieren der Fingernägel – was für manche Menschen bizarr anmutet, kann bei anderen so angenehme Gefühle hervorrufen, dass Wissenschaftler sogar von einer Art „Gehirnorgasmus“ sprechen. Das Phänomen, das hier gemeint ist, wird „ASMR“ genannt und ist trotz seiner weiten Verbreitung über Social-Media-Kanäle erstaunlich wenig erforscht.
Mehr Informationen rund um Definition, Wirkung und wissenschaftlicher Einordnung von ASMR gibt es in diesem Artikel.
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Was versteht man unter ASMR?
ASMR steht für „Autonome Sensorische Meridianreaktion“ (oder auch Autonomous Sensory Meridian Response) und soll deutlich machen, was durch bestimmte auditive und visuelle Reize ausgelöst wird: ein spezieller Zustand der Entspannung, verbunden mit einem angenehm kribbeln auf der Haut, das oft am Kopf beginnt und dann über den Nacken auf die Schultern und den restlichen Körper übergeht. Der Begriff Meridian ist dabei aus der Traditionellen Chinesischen Medizin entlehnt, und bezeichnet ein Netz von Bahnen im Körper, in denen unter anderem die Lebensenergie Qi fliessen soll.
Mittlerweile beschäftigen sich auch Forschende mit dem vielschichtigen Phänomen. Sie beschreiben ASMR als eine Sinneserfahrung, die von einer Mischung aus Erregung, Entspannung, Wachsamkeit und emotionaler Verbindung begleitet wird. Manche sprechen sogar von einem tranceähnlichen Zustand. Dabei lassen sich körperliche Veränderungen auch objektiv erfassen: so sind eine veränderte Gehirnaktivität, eine erhöhte elektrische Leitfähigkeit der Haut als Indikator für Erregung, eine reduzierte Herzfrequenz und erweiterte Pupillen nachweisbar.
Typische ASMR-Trigger
Die Reize, die ASMR auslösen, werden als „Trigger“ bezeichnet, und sind individuell unterschiedlich. Man unterscheidet akustische von visuellen und taktilen Reizen. Zu den akustischen Reizen zählen typischerweise Geräusche, die eher sanft und repetitiv sind, wie ruhige Stimmen, Flüstern, Klopfen, Knacken, das Tropfen von Wasser oder das Tippen mit den Fingernägeln auf Gegenstände.
Als visuelle Reize gelten sowohl unbewegte Bilder als auch Beobachtungen von Personen, die sich verschiedenen, oft „langweilig“ anmutenden Tätigkeiten widmen, wie beispielsweise dem Lackieren der Fingernägel, Schminken oder Zeichnen. Auch taktile oder haptische Reize wie sanfte Berührungen am Kopf, etwa durch sanftes Frisieren mit einer Bürste, oder das Streichen mit Fingern über den Rücken gelten als Auslöser.
Nicht alle Reize scheinen sich dabei aber gleich gut zu eignen: Studien an Nutzern von ASMR-Videos belegen, dass Flüstern (54,2 Prozent), Fingerklopfen (53 Prozent) und Haare bürsten (49,4 Prozent) als besonders angenehm, Essgeräusche hingegen als eher abstossend erlebt werden.
Nutzung von ASMR und Triggern
In den sozialen Medien werden ASMR-Videos inzwischen millionenfach geklickt, und sogar grosse Firmen nutzen die Flüstertechnik für Werbezwecke, um ihre Botschaften länger im Gedächtnis der Kunden zu halten. Rund 50 Prozent der Nutzer von ASMR-Inhalten sind dabei zwischen 18 und 24 Jahre alt; die Geschlechterverteilung zwischen Männern und Frauen ist ausgewogen.
ASMR – Wirkung
Was genau bei ASMR im Körper passiert, ist derzeit noch relativ unerforscht. Wissenschaftler vermuten, dass sich ASMR-Empfindungen mit der Ton-Berührung-Synästhesie vergleichen lassen. Dieses Phänomen beschreibt, dass bei manchen Menschen bestimmte Klänge oder Klangabfolgen eine haptische Empfindung oder einen Geschmacksreiz auslösen können. Im Gegensatz aber zur Gänsehaut, die meist nur wenige Sekunden verspürt werden kann, können ASMR-Empfindungen über die gesamte Dauer des Triggers hinweg anhalten.
Schätzungen zufolge können allerdings nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt entsprechende Empfindungen wahrnehmen. Dies könnte erklären, warum das Phänomen trotz breiter Resonanz in den Online-Medien bisher nur spärlich erforscht wurde. Denn für viele Menschen wirken die Gefühle, die von den typischen Triggern ausgelöst werden sollen, schlicht wie Einbildung.
Unter den Menschen mit ASMR-Erfahrung berichtet wiederum ein Teil, dass sie die Empfindungen schon seit ihrer Kindheit kennen. Heute wird vermutet, dass diese Unterschiede teilweise neurologisch bedingt sind. So wurde beobachtet, dass Menschen mit stärkerer ASMR eine grössere Empfindlichkeit sowohl für äussere Reize als auch für Vorgänge im Körperinneren aufweisen. Diese Menschen haben ein ausgeprägtes Körperbewusstsein und sind häufig hochsensibel. Sie sind in der Regel auch offener für Erfahrungen, emotional labiler und empathischer als Nicht-ASMRler.
Ausserdem deuten Untersuchungen der Gehirnfunktion darauf hin, dass bei Menschen, die ASMR erleben, Verbindungen zwischen Gehirnregionen bestehen, die nicht unmittelbar benachbart sind. Dagegen scheinen die Gehirne von Menschen, die hierauf nicht anspringen, das parallele Einschalten von Emotionen und Sinneseindrücken zu verhindern.
Spannend ist, dass Untersuchungen belegen, dass bei ASMR tatsächlich auch körperliche Auswirkungen bei Menschen zu beobachten sind, die als ASMR-Responder gelten. Wissenschaftler der Universität von Sheffield stellten zum Beispiel fest, dass die Herzfrequenz solcher Nutzer beim Schauen von ASMR-Videos durchschnittlich um drei Schläge pro Minute sank. Ähnlich wie autogenes Training kann ASMR also einen tiefenentspannten Zustand hervorrufen und so einen gesunden Schlaf fördern.
In einer anderen Studie bescheinigten 70 Prozent der Teilnehmer einen positiven Effekt der Videos auf ihre Gemütslage. Auch die Hautleitfähigkeit veränderte sich, was auf eine Verringerung der Stresslevel hindeutet. Eine Studie, die die Gehirnaktivitäten von ASMR-Respondern mittels MRT untersucht hat, stellte zudem fest, dass bei den Videos das hirneigene „Belohnungssystem“ aktiviert und somit Gehirnregionen angesprochen werden, die wichtig für Sozialbindungsverhalten sind. Das zusätzliche Ausschütten des „Kuschelhormon“ Oxytocin verstärkt das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, dass Nutzer beim Konsum der Videos erfahren.
Unendlich oft scheint man das Erlebnis allerdings nicht wiederholen zu können, denn nach einer gewissen Zeit der Gewöhnung lässt die Wirkung der ASMR-Reize nach.
Wann wird ASMR eingesetzt?
Menschen, die ASMR-Videos konsumieren, versuchen damit vor allem, zu entspannen, einzuschlafen und Stress abzubauen. Einige Nutzer setzen dies zudem begleitend zur Therapie gegen Depressionen und Angstzustände ein. Schliesslich sollen auch chronische Schmerzpatienten hiervon profitieren können.
ASMR – Wissenschaftliche Sichtweise
Bis vor wenigen Jahren wurde ASMR noch von vielen Wissenschaftlern belächelt und als kurzweiliger, nicht ernstzunehmender Internettrend abgetan. Mittlerweile widmen sich jedoch immer mehr Studien dem Phänomen und versuchen, die medizinischen Hintergründe zu klären. Das grösste Problem dabei ist die Tatsache, dass nicht alle Menschen mit dem berühmten „Kribbelgefühl“ auf Trigger reagieren, und so immer ein gewisser Zweifel an der Seriosität des Phänomens im Raum steht. Die derzeitige Studienlage kommt dabei im Hinblick auf ASMR zu folgenden Erkenntnissen:
- Verbessert die Stimmung: Gehirnwellenmessungen bestätigen, dass Menschen, die auf ASMR reagieren, nach Exposition weniger depressive Gedanken hegen
- Scheint auch kognitive Fähigkeiten, wie Aufmerksamkeit oder Entscheidungskraft, positiv zu beeinflussen
- MRT-Bildgebung zeigt, dass ASMR nicht nur sensorische oder „gefühlsbetonte“ Gehirnareale aktiviert, sondern auch solche Areale, die für Motorik oder kognitive Fertigkeiten zuständig sind
- Ebenfalls durch MRT-Bildgebung konnte belegt werden, dass ASMR die Gehirnareale besonders stimuliert, die für das körpereigene Belohnungssystem zuständig sind (Nucleus accumbens und Inselrinde)
- Reduziert nachweislich die Herzfrequenz, was ein medizinisches Potenzial für Behandlungsmöglichkeiten bei kardiovaskulären Erkrankungen beinhaltet
- Erhöht die elektrische Leitfähigkeit der Haut; dies spricht für einen erregenden Effekt.
- Scheint bei Respondern einen meditationsähnlichen Zustand hervorzurufen, der auch bei anderen Techniken wie Yoga gefunden werden kann. Gehirnwellenmessungen während ASMR-Ereignissen (erhöhte Alpha und Theta-Wellen im frontalen Kortex) bestätigen diese Ergebnisse.
- Aktiviert das sogenannte „Default Mode Network“, eine Gruppe von Hirnarealen, die aktiv werden, wenn Menschen Tagträumen oder Zukunftspläne schmieden
- Akustische und visuelle Trigger sprechen nicht die gleichen Gehirnareale an; während audiovisuelle Stimuli den Nucleus Accumbens und den Gyrus frontalis medius aktivieren, zeigt sich dieser Effekt bei akustischen Stimuli in der Inselrinde. Dies suggeriert, dass nicht alle ASMR-Trigger gleich nützlich für die mentale Gesundheit der Patienten sein könnten.
ASMR – Vor- und Nachteile
Inzwischen ist bekannt, dass ASMR den Menschen, die dieses empfinden können, viele Vorteile bieten kann. Einerseits kann es ein wirksames Hilfsmittel bei Einschlafstörungen sein, denn es hilft, in einen Zustand der Ruhe und Entspannung zu finden. Ausserdem kann dieses Menschen mit Depressionen helfen, indem deren Fokus umgeleitet wird: weg vom ständigen Grübeln hin zur totalen Konzentration auf das monotone Video.
Trotzdem kann ASMR auch Nachteile haben. Schwierig wird es (vor allem für jüngere Nutzer) dann, wenn die Grenzen zwischen „normalen“ und sexuellen Inhalten verwischen. Auch wenn ASMR per se nicht sexuell stimulierend wirken soll.
Passende Jobs im Gesundheitswesen
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- AOK, ASMR – was hinter dem Phänomen steckt, https://www.aok.de/... (letztes Abrufdatum: 05.09.2024)
- SRF, ASMR: Wie Forschende versuchen, Gehirnorgasmen zu verstehen, https://www.srf.ch/... (letztes Abrufdatum: 05.09.2024)
- Barmer, ASMR-Videos: Wellnessmassage fürs Gehirn?, https://www.barmer.de/... (letztes Abrufdatum: 05.09.2024)
- Engelbregt HJ., Brinkman K., van Geest CCE., Irrmischer M., Deijen JB., The effects of autonomous sensory meridian response (ASMR) on mood, attention, heart rate, skin conductance and EEG in healthy young adults. Exp Brain Res. 2022 Jun;240(6):1727-1742, doi: 10.1007/s00221-022-06377-9, Epub 2022 May 5, PMID: 35511270; PMCID: PMC9142458.
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- Poerio G. L., Succi A., Swart T., Romei V., Gillmeister H. (2023): From touch to tingles: Assessing ASMR triggers and their consistency over time with the ASMR Trigger Checklist (ATC), Consciousness and Cognition, Volume 115, 103584, ISSN 1053-8100,, https://doi.org/10.1016/j.concog.2023.103584.
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